Einführung
zu der Vernissage
am 31. Januar 2002
in der Europa Akademie, Haus Hohenstein in Witten
"Fragmente des Lebens"
Blickzentrum
und Zentrum der Bildaktivität zugleich, ist in den Werken des Brasilianers
Paulo de Oliveira Simoes das immer wieder auftretende Motiv des Auges.
Es löst sich aus seinen figurativen Abstraktionen vom Menschen, tritt
vereinzelt oder vervielfältigt auf, erscheint "verrückt"
an einem Ort, in einem anderen Kontext und gewinnt durch seine zeichenhafte
Stilisierung eine eindringliche und zugleich bedrängende Präsenz
von symbolhafter Dimension.
Mit den Augen öffnet sich das Bild und zieht uns in seinen Bann - zwingt
uns zu Einblicken in fremde oder auch nicht fremde Außen- und Innenwelten
des Menschen, die Simoes zum Hauptthema macht. Die zeichnerische Schärfe
und Festigkeit der Augen steht im Kontrast zu der malerischen Figurenauffassung,
die verschiedene Grade der Destruktion aufweist. Es sind Deformationen zwischen
Aufweichung und Verflüssigung, bei denen die menschliche Figur sich
auf schlauchartig gedrehte, gewundende, amöbenhafte embryonale Gebilde
reduziert. Disproportioniert mit überdimensionalen Köpfen oder
Gliedmaßen, in Fragmente zerlegt, erscheinen sie schemenhaft. Vereinzelt,
paarweise oder in Gruppen verbinden oder verflechten sie sich gleichsam
im kollektiven Grund der Bildfläche.
Deformation und Dissoziationen sind Mittel der Wesensbestimmung, des Fremdmachens,
der Distanzierung, aber auch Mittel der Ausdruckssteigerung - bis zum Schock
und Entsetzen. Sie dienen zum einen der Wahrnehmungsintensität und
Aufmerksamkeits- steigerung, weil "wir alle dem entstellten Kopf mehr
Beachtung schenken. Wenn ich male, versuche ich stets eine Form der Darstellung
zu finden, die die Leute nicht erwarten, ja die sie darüber hinaus
noch ablehnen. Ich gebe dem Menschen ein Bild seiner selbst...."(Picasso).
Dem Menschen ein Bild seiner selbst zu geben, ist auch das Anliegen von
Simoes. Es ist ein Bild, in dem sich Eigenes und Fremdes, Individuelles
und Kollektives, eigene Erfahrung und fremde kulturelle Geschichte und Tradition
verbinden.
Es sind Grundthemen menschlicher Existenz, die Simoes Bild werden läßt. Stationen des Lebenskreislaufs zwischen Geburt, Leben, Liebe, Mann und Frau, Schwangerschaft, Trennung, Tod.
Er
bedient sich dabei einer entindivisualisierten Formensprache, die uralte
Symbolfiguren, Fruchtbarkeitsidole, Fetische, Götterstatuen vergangener
Kulturen assoziiert, und in denen zum Teil die Disproportionen - wie übergroße
Bäuche, Brüste und ihre Verdoppelungen - für Fruchtbarkeit
und Wachstumskraft stehen. Dem entspricht die phallische Symbolik einiger
Zeichen und Motive, wie z.B. Die Vagina, die sich auch mit der Form des
Auges verbindet.
(Für den Psychoanalytiker z.B. ist das Auge als Traumbild - wie auch
der Mund - ein verhüllendes Symbol für das weibliche Genital).
Daneben tritt auch das Ei als Fruchtbarkeitssymbol zusammen mit dem Lebensbaum
auf (z.B. Bild: "Lebensbaum II"). Vervielfältigt bildet es
ein ornamentales Grundmuster, aus dem der Lebensbaum entwächst. In
den mythischen Vorstellungen sehr vieler Kulturen findet sich das Weltenei,
daß als Sinnbild der Totalität aller schöpferischen Kräfte
da war. Im Lebensbaum vermischt sich die christliche Sicht des Baums der
Erkenntnis von Gut und Böse mit der mythischen Vorstellung von Weltenbaum
als Träger der Welt oder als Verkörperung der Weltachse. Zugleich
kann man - besonders im Bild "Lebensbaum I" auch eine aktuelle
Bezugnahme auf die Zerstörung des tropischen Regenwaldes sehen. Wie
bei alten kultischen Ritualen zelebrieren die Figuren in ihren Gruppierungen
und Bewegungsfigurationen in der Fläche diese Grundthemen. Dabei bestimmt
von einem passiven, zähflüssig wirkenden Rythmus, der ihnen ihre
Lebenskraft schwer macht. Simoes verknüpft Tradition und Gegenwart.
Es ist die Tradition des eigenen Landes, der afro-amerikanische Ursprung,
das indianische Erbe, von dem er seine künstlerische Inspiration erfährt
und mit dessen Wiederbelebung er sich auf die Suche nach der Identität
seines Volkes begibt.
Und
es ist die Gegenwart seines Landes - die soziale Situation, gleich dem Bild
des Lebensbaums I der Verlust der Wurzeln, die Wunden,
die durch Kolonialisierung und Ausbeutung ihre Spuren hinterlassen haben.
Die schmerzhaften Verarbeitungen zeigen sich in den ausgemergelten, ausgefransten,
in Auflösung begriffenen Figuren, "Schemen ohne Identität"
(so ein Titel) sowie in der zum Teil kalten, nächtlichen, fahlen Farbigkeit.
Schmerz, Trauer, Nächtliches, Zerstörung ganzheitlicher Lebensentwürfe,
Abgeschnittensein, Verletzungen zeigt sich in den "Fragmenten des Lebens".
Der Paarung folgt die Trennung, der Schwangerschaft die Abtreibung, der
Geburt der Tod. Die Augen hängen wie Tränen an dem Lebensbaum.
Der Baum ist ebenso verletzt wie die Menschen. Nur das kollektive Schicksal
hält sie zusammen.
Und
doch gibt es auch eine folkloristische Leuchtkraft der Farben, gibt es Prozessionen,
traditionelle Tänze, die sie tanzen, Feste, die sie feiern. Mythos
und Realität, Tradition und Gegenwart verbindet Simoes in seinem Werk
- auf der Suche nach den Wurzeln seiner Identität, die als Grundlage
für eine neue Kraft und Stärke gelten könnte. Die Augen als
Hauptorgan der sinnlichen Wahrnehmung und zugleich als Sinnbild der Erkenntnis
und "Spiegel der Seele" werden in ihrer magischen Ausdruckshaftigkeit
zum Bildsymbol für diese Auseinandersetzung.
Sie sind nicht nur bannende, unheilabwehrende Schau, Angst - und trauervolles
Durchschauen, überraschtes Erblicktwerden, aktive Kraft, sondern sie
richten den fragenden Blick zugleich an uns.
In
der Formensprache der Bilder erleben wir eine Synthese der eigenen Tradition
von Simoes und der europäischen klassischen Moderne.
So gibt es deutliche Anklänge an die Formzerlegung des Kubismus, die
Deformation, Disproportionen und Metamorphosen des Surrealismus eines Picasso
oder Dali, u.a. Beleg für den in der Kunst möglichen fruchtbaren
"Dialog der Kulturen".
Im Zeitalter einer zunehmend digitalisiert, virtuell reproduzierten Realität
überzeugt die Unmittelbarkeit und Authentizität der Arbeiten von
Simoes und ermöglicht uns einen direkten, sinnenhaften Kontakt nicht
nur mit dem Bild, sondern auch mit dem Mensch-Sein.
Eva Maria Schöning, Kunsthistorikerin in Bochum